Im Spätherbst 1957 musste ich abends im Auftrag der Mutter 3 Liter Milch in der Sennerei Seebach holen. Es war schon ziemlich dunkel. Der Vater war bereits zu Hause und arbeitete im Keller. Da er stets mit dem Velo zur Arbeit fuhr, stand das Velo noch vor dem Hause. Er pflegte es erst spät abends im Keller zu versorgen. So war die Verlockung gross, statt den ganzen Weg zu tippeln, rasch sein zurückgebautes, ehemaliges Rennvelo zu nehmen und eine Viertelstunde Zeit zu gewinnen. Ã?blicherweise frug man damals den Vater, ob er das auch erlaube, doch dachte ich in der Eile, der merkt das doch gar nicht, wenn ich in wenigen Minuten wieder zurück bin. Ausserdem dachte ich, wenn ich schon Kommissionen für die Eltern zu erledigen habe, dann schliesse dies irgendwie das Recht ein, das Velo ohne langes Fragen benützen zu dürfen.
Gedacht, getan. Ich schnallte das Milchkesseli auf den Packträger und wollte davon fahren. Da bemerkte ich, dass mein Vater die Rennpedalen montiert hatte, die ich gar nicht mochte und zwar deshalb, weil mein Vater mit 1.88 m Körperlänge und seinen besonders langen Beinen den Sattel so hoch gestellt hatte, dass es mir im Sattel sitzend fast nicht möglich war, mit den Schuhen in die Pedalenbügel zu schlüpfen. Daher musste ich dies schräg auf der Velostange sitzend versuchen, was seine Zeit brauchte. Um Zeit zu gewinnen, wählte ich nun die Strecke über die Buchwiesen, Rümlang- und Hertensteinstrasse, weil man da schneller fahren konnte als auf dem Fussweg. Rasch war ich in der Molki, wie man damals im Volksmund die Sennerei Seebach nannte. Ich stellte das väterliche Velo voller Stolz an die Hauswand beim Molkieingang und hatte das Glück, dass nur wenige Kunden im Laden waren und ich rasch an der Reihe war. Wie damals üblich, liess ich die Milch anschreiben. Dafür hatte Herr Buchmann eine grosse Schiefertafel, wo er alles mit Kreide notierte. Das musste dann Sepp Studer, der Milchmann, von Zeit zu Zeit in die Milchbüchli übertragen.
Schon bald schnallte ich das Milchkesseli mit den 3 Litern Milch wieder sorgfältig auf den Packträger und klemmte es sauber zwischen den Spannbügel und den Sattel, stieg auf das Velo, fädelte die Schuhe in die Pedalbügel ein und schon ging es sausend die Hertensteinstrasse hinunter, vorbei an den Häusern der Bäckerei Hippin, des Bauern Huber, des Elektrikers Bräm und des Sekundarlehrers Keller. Dieser Teil der Strasse war damals noch mit Psetzisteinen gepflastert und das Milchkesseli wurde auf dem Packträger arg durchgerüttelt. Nach dem kleinen Stützli bei Bräm ging es wieder bergab. Der Psetzisteinabschnitt war vorbei und der Strassenbelag wieder glatt. Das Velo glitt leise vor sich hin.
Allerdings beachtete ich nicht genügend, dass die Strasse vom nachmittäglichen Regen her noch feucht war, dass eine klare Nacht bevor stand und dass es bereits jetzt recht kalt war. Es kam was kommen musste: In der Einmündung zur Birchstrasse war die Strasse noch besonders feucht und schon leicht gefroren. Das bemerkte ich aber zu spät und konnte das Velo nicht mehr halten. Abspringen war nicht schnell genug möglich, da ich meine Schuhe in den Pedalbügeln eingefädelt hatte und so fiel ich fest ans Velo gefesselt mit einem lauten Scheppern auf die Strasse und rutschte auf dem Glatteis noch ein paar Meter weiter bis vor ein abgestelltes Auto. Selbstverständlich löste sich dabei der Milchkessel vom Packträger, doch wie durch ein Wunder blieb der recht streng sitzende Deckel auf dem Kesseli und die Milch vor Verlust verschont. Bald standen einige Kinder und Erwachsene um mich herum und wollten wissen, ob ich mir weh getan hätte. Als sie sahen, dass ich offensichtlich heil davon gekommen bin, verschwanden sie wieder.
Sofort rappelte ich mich auf, holte das weit weg gerollte Milchkesseli und schnallte es wieder wie gewohnt auf den Packträger. Auch das Velo bekam keinen sichtbaren Schaden ab. Doch als ich wieder versuchte, aufzusteigen und heim zu fahren, bemerkte ich, dass meine beiden Handgelenke immer stärker zu schmerzen begannen. Es war völlig unmöglich, weiter zu fahren. So schob ich das Velo neben mir her, obwohl auch das bereits recht schmerzhaft war und kam lediglich etwa 5 Minuten später zu Hause an, als wenn ich zu Fuss gegangen wäre.
Wegen den starken Schmerzen konnte ich aber das Milchkesseli nicht mehr vom Packträger nehmen und schon gar nicht ins Haus tragen. Schnurstracks ging ich in die Küche und beichtete der Mutter, was geschehen war. Ihr Augenmerk galt aber nicht meinen Handgelenken, sondern der Milch, auf die sie schon gewartet hatte. Ziemlich verärgert war sie dann einen Moment lang, als sie sah, dass das Milchkesseli eine Beule abbekommen hatte. Aber dann endlich schaute sie sich meine Handgelenke an, die bereits etwas angeschwollen waren. Sie bewegte die Gelenke, was wahnsinnig schmerzte und meinte dann: "Die sind beide verstaucht." Sie holte ein Hausmittelchen und eine schwarze Salbe, legte Gaze-Kompressen darüber, fixierte sie und verband beide Gelenke mit Verbandstoffrollen.
Dann kochte die Mutter das Abendessen und rief zu Tisch. Mit den eingebundenen und immer noch sehr schmerzenden Händen konnte ich nicht selber essen, sondern musste von der Mutter gefüttert werden wie ein kleines Wickelkind. Die Geschwister fanden das noch lustiger als die Mutter und auch der Vater konnte sich bei dem ungewöhnlichen Anblick ein Lächeln nicht verkneifen. Dann wollte er wissen, wie das passiert wäre und es blieb mir nichts anderes übrig als verschämt einzugestehen, dass ich ungefragt sein Velo benützt und auf Glatteis ausgerutscht sei. Er meinte nur, dass ich ihn hätte fragen sollen, denn er hätte es mir nicht erlaubt, weil er auf dem kurz zuvor zurück gelegten Heimweg das sich anbahnende Glatteis an der gleichen Stelle selber bemerkt habe.
Die Folgen des an sich harmlosen Unfalls waren erstaunlich: Ich musste am nächsten Tag zu Dr. Spindler zur Kontrolle. Dieser meinte nach wenigen Augenblicken, meine Mutter hätte alles richtig gemacht und die Diagnose stimme auch. Es gab eine neue Schachtel Gaze-Kompressen, zwei Rollen Ersatz-Verbandstoff, ein Döschen schwarze Salbe und dann verordnete er zwei Wochen absolute Ruhe für die Handgelenke!! An einen Schulbesuch war so nicht zu denken und daher zerrann die Zeit unglaublich langsam. Und jeden Tag zwei Mal das gleiche Spiel: Fütterung des Wickelkindes zum Gaudi der ganzen Familie. Sogar Lehrer Herbert Hartmann kam einmal auf Hausbesuch und brachte mündliche Aufgaben mit. Auch sonst kam viel Besuch aus der Nachbarschaft und freute sich besonders, wenn Mutter mich fütterte. Das sah deshalb besonders lustig aus, weil meine Handgelenke nach unten abgewinkelt eingebunden wurden, sodass ich aussah, wie ein bettelnder Hund. Da lernte ich von selbst, die Sache von der lustigen Seite zu nehmen.
Die Schmerzen liessen allmählich nach und binnen einer Woche waren sie ganz verschwunden. Die ersten Bewegungsübungen begannen pünktlich nach zwei Wochen und nach einer weiteren Woche konnte ich wieder zur Schule, doch dauerte es noch längere Zeit, bis ich wieder voll bewegungsfähig war und der Turndispens aufgehoben wurde. Besonders das Schreiben machte am längsten Mühe. Das Milchkesseli hat der Vater wieder ausgebeult und am Velo musste er das Lämpli ersetzen und das vordere Schutzblech zurecht biegen.
Was mir auch noch in Erinnerung geblieben ist, war der Spruch meiner Mutter: "Gott straft sofort!"