OGS Seebach - Beitrag

Kinderrennwagen
Fahrzeuge – Kinderfahrzeuge – historisch
Abgespeckter Kinderwagen

Um 1954 glichen die Kinderwagen stets ein wenig den Autokarosserien, meistens mit schwungvollen Radkästen. Ausgediente Kinderwagen wurden von ein paar glücklichen Buben wie Seifenkisten betrieben, vermutlich inspiriert durch die sportliche Formgebung. Man entfernte das Klappdach, den Inhalt und den Handgriff und fuhr damit die weniger steilen Strassen hinunter. Besonders beliebt war die Käshalden- und die Rümlangstrasse, wo man einen guten Überblick hatte. Gesteuert wurde mit den Schuhen, was die Mütter aber gar nicht mochten. So wich man auf alte Latschen aus, um das Gezeter zu vermeiden.

Die Abfahrten mit den abgespeckten Kinderwagen waren echte Knüller, kamen leider nur selten vor, denn in der Regel wurden die Kinderwagen durch die Eltern bei Nichtgebrauch weiterverkauft. Ich kann mich zwar nicht mehr sicher an den Namen des «Rennfahrers» erinnern, doch um 1955 gab es einen Schönauringler, vermutlich war es «Beppi» alias Peter Schär, welcher die Käshaldenstrasse hinunter fuhr und dabei schon ganz oben bei der Okey AG Anlauf nahm. Die Kurve bei der Abzweigung von der alten Rümlangstrasse in die Käshaldenstrasse nahm er derart forsch, dass die Fuhre schier kippte, danach schoss das Gefährt mit einem echten Affenzahn um die S-Kurve bei den Stallungen Frischknecht, nahm schlingernd die Kurve vor dem Bauernhaus Kläusli, auf der falschen Strassenseite natürlich, und fuhr dann schon ziemlich langsamer auf den Schönauring zu. Die Buchholzkrete verlangsamte die Fahrt bis zum Stillstand, sodass dort fertig lustig war. Das war kurz nachdem die Strassen geteert wurden.

Beobachtet hatte ich diese Darbietung von verschiedenen Positionen aus, denn der Wagen fuhr so schnell, dass man ihm auch mit Laufen bei weitem nicht zu folgen vermochte. Gefehlt hat da zur Vollendung der Atmosphäre nur noch das Tuckern eines Motors, das blaue Räuchlein und der Geruch nach verbranntem Rizinusöl. Der Beppi wohnte 1954 übrigens im Schönauring 63 ganz oben.

Echter Kinderrennwagen mit Raketenantrieb

Dass Beppi (Peter Schär) mit seiner Idee aber nicht den schnellsten Kinderrennwagen seiner Zeit besass, dafür sorgte zuvor ein anderer 'Bastler', allerdings ein erwachsener, welcher für seine Tochter Heidi die Kinderrennwagen «Young Switzerland» und «Berger Meteor» mit Raketenmotor von 12 kp Schub (!) baute. Allerdings konnte ich lange Zeit nirgendwo einen Hinweis finden, welcher Art der Antrieb war. Auf dem Gefährt von 1948, das Hans Berger baute, stand lediglich 'Moteur à réaction'. Das ist mit nebenstehender Foto sogar fotografisch überliefert, allerdings war er kein Seebacher, sondern der Schweizer Helikopterkonstrukteur Hnans Beger (BX-50, BX-110) und Schweizer Repräsentant für die Brantly B-2-Helikopter, welcher 1948 das erste düsengetriebene Kinderauto der Welt baute. Doch damit nicht genug, baute er im gleichen Jahr auch einen Formel 3-Rennwagen und da durfte Heidi ebenfalls reinsitzen, wenigstens für eine Foto. Beide Kinderrennwagen «Young Switzerland» und der Nachfolger «Berger Meteor» haben bis heute überlebt und zwar im Lane Motor Museum in Nashville, Tennessee, USA, wo man mir bestätigte, dass es sich um ein Raketentriebwerk handelte, welches die beiden Wagen antrieb. Damit war klar, dass ich Heidis Raketenautos wieder aufgefunden habe. Heidis Bruder René hat sie 1999 nach Amerika verkauft, wo man etwas mehr Interesse für Hans Bergers originelle Ideen hatte.

Heidi Berger, die Fahrerin der beiden Kinderrennwagen, wurde später bekannt als erste Schweizer Helikopterpilotin. Als Co-Pilotin war sie mit dabei als eine Bell HueyCobra 1967 mit 367 km/h einen inoffiziellen Geschwindigkeits-Weltrekord für Helikopter aufstellte. Zudem überflog sie schon 1961 als erste Frau mit einem Helikopter die Alpen, liess sich auch zur Berg-und Gletscherpilotin ausbilden und flog danach für die Heliswiss. Sie brachte es auf über 3'100 Flugstunden und beschloss dann von einem Tag auf den anderen, nicht mehr zu fliegen, nicht etwa weil es ihr nicht mehr gefiel, sondern weil sie aus gesundheitlichen Gründen aufhören musste, wie sie selbst sagte. Dass der tiefere Grund eine leichte Fehlsichtigkeit gewesen sein soll, mit welcher sie nicht mehr gewerbsmässig Helikopter fliegen durfte, ist lediglich eine Vermutung, die heute nicht mehr bestätigt werden kann, da medizinische Angaben dem Arztgeheimnis unterliegen. Somit bleibt für alle Zeiten offen, was genau sie mit den 'gesundheitlichen Gründen' meinte. Abgesehen von den vielen Zeitungsberichten um 1961 und 1965, gab es im August 1986 und im November 1991 in der Aero-Revue, um 1988 in der Tessiner Zeitung und um 1995 im Tages-Anzeiger weitere Berichte über sie. Sie ging mit 61 zwei Jahre vorzeitig in Pension und verstarb am 13. Dezember 2004 im Alterspflegeheim 'Häuptli' in Zürich-Schwamendingen.

Die Helikopter-Eigenbauten ihres Vaters Hans Berger waren damals neben dem Contraves-Helikopter die ersten in der Schweiz konstruierten und auch gebauten Helikopter. Der erste Heli vom Typ BX-50 von 1961 flog zwar gut, kippte aber nach erfolgter Landung auf leicht abschüssigem Gelände um und erlitt einige Beulen, da der Rotor noch lief. Er wurde wieder aufgebaut und hiess danach BX-50A. Der BX-110 von 1974 hatte wegen eines ungeeigneten Motors noch technische Startprobleme, doch nach einem Wechsel auf einen japanischen Wankelmotor blieb der BX-110 fast 21 Jahre lang im Luftfahrtregister angemeldet, ehe der Eintrag gelöscht wurde, was zeigt, dass Hans Bergers Konstruktionen einwandfrei waren und das darf man wohl auch für die Kinderrennwagen annehmen, denn Heidi hatte damit nie einen Unfall gebaut. Sie ist natürlich nicht auf öffentlichen Strassen gefahren, sondern auf dem Flugplatz Saanen. Wer mehr Details über Heidi Berger lesen möchte, findet in der OGS unter dem Suchbegriff "Berger, Heidi, erste Schweizer Helikopterpilotin" sowie "Berger, Hans, Schweizer Helikopterkonstrukteur" viele Infos. Heidi Berger wohnte ab 1962-1968 und von 1984 bis 2004 in unserem Nachbarquartier Zürich-Schwamendingen.

Leiterwagen

Ein weiteres Gefährt, welches die Kinder damals als Rennwagen missbrauchten, war der Leiterwagen, mit welchem diese von der Buhn über den Buhnrain und die Hertensteinstrasse bis vor die Bäckerei Hippin fuhren, manchmal in beängstigendem Tempo und wegem dem Kopfsteinpflaster auch mit einem Höllenlärm. Mehr dazu siehe unter Leiterwagenfahrten!

Rollwagen

Rollwagen, auch Rollbrett genannt, waren im Seebach der 1950er Jahre ein Spielzeug der bastlerisch veranlagten Buben. Sie waren die frühen Vorläufer der späteren Seifenkisten. Die Rollwagen waren recht häufig anzutreffen, weil die nahe gelegene Kugellagerfabrik SRO in Örlikon offenbar dafür sorgte, dass gebrauchte Kugellager nicht einfach fortgeworfen wurden, sondern unter der Hand an die Bastler gingen. So genau lässt sich das heute nicht mehr sagen.

Das Fahrzeug bestand aus einem Holzbrett mit einer starren Hinterachse aus einer Holzleiste, an welcher ganz aussen zwei grosse Kugellager montiert waren. Die Vorderachse bestand aus einer drehbar angeordneten Holzleiste, ebenfalls ausgestattet mit zwei meist etwas kleineren Kugellagern. Mit solchen Wagen fuhr man damals die geneigten Strassen wie Käshalden-, Rümlang-, Buhn-, Buhnrain-, Bahnhalden-, Höhenring- und Grünhaldenstrasse- sowie den Kosakenweg hinunter. Die Fahrzeuge machten einen Höllenlärm und waren die Attraktion für alle finanziell minderbemittelten Buben, welche bastlerisch veranlagt waren und Zugang zu ausgeleierten Kugellagern der Autowerkstätten oder eben der SRO hatten. Diese Rollwagen dienten machmal auch als Kinderrennwagen, doch erreichten sie nie sehr hohe Geschwindigkeiten. Mehr dazu siehe unter Rollwagen!

Das rollende Reissbrett

In der 3. Klasse der Sekundarschule bekamen die Schüler ein Reissbrett, welches sie mit nach Hause nehmen mussten. Es war schätzungsweise 60 x 50 cm gross und aus hellem Birkenholz gefertigt. Birkenholz ist weich und das war nötig, um im Brett mit Reissnägeln das Zeichenblatt zu fixieren. Auf der Rückseite gab es zwei Querbalken, die dem Brett Halt gaben, denn es war aus mehreren Holzlatten zusammengeleimt. Dieses Reissbrett brauchten wir pro Woche während zwei Stunden am Samstag Morgen, wenn wir technisches Zeichnen oder darstellende Geometrie als Schulfach hatten.

1960 kam ein Seebacher Schüler, dessen Name mir soeben entfallen ist, auf die «geniale» Idee, das Reissbrett in einen Rollwagen umzubauen (!!!). Er machte es sich einfach und montierte lediglich 4 Kugellager aussen an die Querbalken. Der Schüler hatte dann sogar die Kühnheit, diesen Rollwagen ganz ungeniert mit in den Unterricht zu nehmen, wo Lehrer Emil Staub es fast nicht glauben konnte und mehrere Sekunden brauchte, bis er fertig konsterniert war. Der Schöpfer dieses Rollwagens, welcher wahlweise auch als Reissbrett verwendet werden konnte, entwickelte ohne es zu ahnen einen frühen Vorläufer des Rollbretts. Gesteuert werden konnte das Gefährt noch nicht, doch spielte das damals keine Rolle, da es vor allem gebaut wurde, um den Lehrer zu ärgern.

Seifenkisten

Seifenkisten waren eine weitere Art für Kinder sich rennmässig zu bewegen, sie steckten in den 1950er Jahren aber noch in der Entwicklung und wurden nur vereinzelt angetroffen, wenn ein handwerklich begabter Vater etwas mithalf und so seinem Sprössling einen Wagen baute. Auch diese Art von Kinderrennwagen war auf Gefälle angewiesen. Mehr zu den Seifenkisten siehe unter Seifenkisten-Derby!

Der Beitrag wurde am 29. März 2023 aktualisiert.

Quellen:
- OGS-eigene
- Bericht in der Aero-Revue um 1995

Kinderrennwagen (1944)

Hier eine Foto vom Tannzapfensammeln einer Schulklasse von Sekundarlehrer Emil Staub. Diese Leiterwagen wurden von den mutigeren Buben auch für Abfahrten an steileren Strassen benützt.

Kinderrennwagen (1948)

Hier sieht man die erst 6½ Jahre junge Heidi Berger am 16. Oktober 1948 auf dem Flugplatz Saanen im vom Vater gebauten Rennwagen "Young Switzerland" mit Raketenantrieb.

Kinderrennwagen (1948)

Hier sieht man Buben mit einem Rollwagen in voller Fahrt. Das Bild fand sich im Jahreskalender 2011 des Ortsgeschichtlichen Vereins Örlikon auf dem Dezemberblatt ohne weitere Angabe des Fotografen.

Kinderrennwagen (1949)

Hier sieht man Heidi Bergers 2. Raketenrennwagen, den sie mit 7½ Jahren fuhr. Nach 1950 bekam er auf ihren Wunsch hin einen Töffmotor mit 50 ccm Hubraum und wurde dadurch ganz unbeabsichtigt zum ersten Go-Kart der Welt.

Kinderrennwagen (1955)

Hier sieht man Peter Schär, genannt Beppi, in seinem abgespeckten Kinderwagen. Gesteuert hat er das Gefährt 'zur grossen Freude' seiner Mutter mit den Schuhspitzen.

Kinderrennwagen (1957)

Hier sieht man das Reissbrett des Geometrieunterrichts in der Oberstufe, im Prinzip Eigentum des Schulamtes der Stadt Zürich, in der Rollwagen-Variante eines Schülers.

Kinderrennwagen (1976)

Der 'Rennfahrer' ist der Sohn von Heinz Billeter. Hier in der langgezogenen Schikane an der Käshaldenstrasse in seiner Seifenkiste.

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