Diese Geschichte hat es in Wirklichkeit in exakt dieser Form vermutlich nicht gegeben. Sie ist vielmehr eine Zusammensetzung von zwei Geschichten, wovon ich eine selber erlebt, aber nur noch dunkel in Erinnerung habe, während die andere Geschichte ein Erlebnis von Peter Rubitschung darstellt. Beide Geschichten sind hier zu einer einzigen verschmolzen, in der Hoffnung, sie käme der Wirklichkeit möglichst nahe.
Der Stifelikater
Es war einmal ein kleiner Bub, ein gefitzter Blondschopf, stets zu allerlei Schabernak aufgelegt. Nicht besonders gross, auch nicht besonders klein, aber ganz besonders schnell war er. Vor allem wenn er flüchten musste, weil er wieder einmal jemanden geärgert hatte. Dabei trug er oft kleine schwarze Gummistiefel, nicht weil es damals um 1949 so oft geregnet hätte, sondern weil seine Mutter offenbar das Geld nicht hatte, ihm teure Lederschuhe zu kaufen. Der Blondschopf ging erst in den Kindergarten, war also noch keine sieben Jahre alt, aber bereits so frech wie ein 10-Jähriger. Sein Kindergarten lag an der Seebacherstrasse 63, gegenüber dem alten Restaurant «Krone». Und weil er irgendwo in Richtung Schönauring wohnte, benützte er oft das Kronenwegli für seinen Schulweg.
Damit war er nicht allein. Viele Schüler waren auf diesem schmalen Wegli unterwegs. Und weil er eine Steinschleuder besass, war er auch noch gut bewaffnet. Allerdings setzte er diese nicht als Waffe ein, sondern als heimtückisches Instrument, um damit die grösseren Buben zu ärgern. Er konnte sich schelmisch darüber freuen, wenn es ihm gelang, diesen mit der Steinschleuder einen winzigen Kiesel an die Waden zu schiessen und dann auch noch zu treffen! Wenn ihm ein Treffer gelang, dann versteckte er seine Steinschleuder sofort unter seiner Jacke und schaute so unschuldig und fröhlich drein, dass man ihn unmöglich verdächtigen konnte. Sprachen ihn die Betroffenen doch einmal an, dann sagte er ganz ungeniert, sie seien eben von einer Hornisse gestochen worden.
Das ging einige Wochen gut, bis er sich als nächstes Opfer einen Sechstklässler aussuchte und ihm, wie üblich einen kantigen Kiesel an die Wade schoss. Damit hatte er sich allerdings überlupft, denn der Sechstklässler war so viel grösser, so viel stärker und auch so viel schneller, dass der blonde Lausbub diesmal den Kürzeren zog. Nach wenigen Metern hatte dieser ihn eingeholt, durchsuchte seine Taschen und seine Jacke und fand darin die Steinschleuder. Kurzerhand legte er den Kleinen übers Knie und versohlte ihm den Hintern, bis dieser so laut zu schreien begann, dass er ihn wieder springen lassen musste, denn überall öffneten besorgte Mütter die Fenster. Die Steinschleuder behielt er aber für sich. Bald wussten es alle, wer der Übeltäter war und man gab dem Schlingel den Übernamen «Stifelikater».
Von diesem Tage an waren alle grossen Buben gewarnt und behielten den «Stifelikater» stets gut im Auge. Das Erlebnis prägte den Kleinen so, dass er fortan ein ganz lieber Bub wurde und keiner Fliege mehr etwas zuleide tat.