Das Märchen ist spontan auf meinen Lippen entstanden. Ich dichtete es während dem ich meinen kleinen Kindern 1987 im Wohnwagen eine Gute-Nacht-Geschichte erzählte. Gleichzeitig näherte sich ein Gewitter und man hörte bereits das Donnergrollen. Es entstand also Satz um Satz und weil es den Kindern so gefiel, musste ich es immer und immer wieder erzählen.
Der polierte Blitz
Es war einmal ein schöner Sommertag. Jeder der konnte, begab sich in die freie Natur und wanderte über Stock und Stein, gleich wie es ihm gefiel. Mit dabei war auch eine Familie aus Seebach, mit dem Buben Hannes und dem Mädchen Elsi. Diese wanderten friedlich dem Leutschenbach entlang. Alle waren guter Dinge und genossen den schönen Sommertag. Sie wurden umgaukelt von Schmetterlingen, es summten die Bienen und die Hummeln. Die Luft roch nach Kamille und wildem Majoran und Heuschrecken sprangen durch die Gegend, dass es eine Freude war.
Ganz vertieft in dieses intensive Naturerleben bemerkten sie gar nicht, dass von Westen her eine Wolkenfront aufzog. Erst als ein kräftiger Windstoss die Familie erfasste und kurz darauf die Sonne hinter den ersten Wolken verschwand, wurde ihnen klar, dass es Zeit war, nach einem Unterstand zu suchen, welchen die Familie im alten gedeckten Brüggli gefunden zu haben glaubte. Der Vater meinte, dass es einen kurzen Platzregen gäbe und in einer halben Stunde alles vorbei wäre. So warteten sie alle auf das Unwetter. Bald schon sah man die ersten fernen Blitze und auch der Donner liess sich bereits als noch leises Grollen vernehmen. Nur wenige Minuten später begann es zu schütten wie aus Kübeln und ein Blitz nach dem andern zuckte hernieder, teils ziemlich nahe beim Brüggli.
Dann gab es einen Ohren betäubenden Knall und es wurde so gleissend hell, dass man auch mit geschlossenen Augen geblendet war. Der Blitz schlug ganz nahe bei Hannes in den Boden ein. Noch während des Einschlags hörte Hannes eine Stimme, die sprach: "Ich bin der polierte Blitz. Komm mit, steig auf!" Noch völlig benommen folgte Hannes der Aufforderung und stieg auf den Rücken des Blitzes, wo er zwei Griffe entdeckte, an denen er sich festhalten konnte und verschwand alsbald samt dem Blitz in den Wolken. Er hörte nur ein gewaltiges Sausen vom Wind, der ihm um die Ohren wehte.
Als er die Augen wieder öffnete, flog der Blitz ganz gemütlich durch die Wolken und näherte sich einem weissen Wolkenhaus mit einer Art Veranda mit hohem Geländer. Hannes war vom Flug begeistert und fragte den Blitz, wie er denn heisse. Der Blitz antwortete: "Ich heisse Ummu und wie heisst du?" Hannes stellte sich nun ebenfalls vor, während Ummu langsam an das Geländer vor der Veranda heran schwebte. "Wie schnell kannst du fliegen?" fragte Hannes nun. Ummu meinte, dass er knapp die 150fache Schallgeschwindigkeit erreiche. Hannes staunte. Bei der Veranda angekommen, dockte Ummu an und es kam eine irgendwie luftig wirkende, weiss gekleidete Gestalt daher, welche dem Blitz Anweisungen erteilte, noch etwas näher einzuparken. Dann warf er ein Anlegeseil um einen am Blitz montierten Seilhalter und zog den Blitz entlang dem Geländer voran.
Als er einmal kurz zurück schaute, bemerkte er, dass auf dem Blitz noch ein Junge sass und fragte ihn, wer er denn sei und woher er komme. Hannes nannte seinen Namen und den Ort Seebach und erklärte, dass ihn der Blitz aufgefordert habe, mit in die Wolken zu kommen. Die weisse Gestalt stellte sich nun ebenfalls vor und nannte sich Nathan. Er forderte Hannes auf, abzusteigen, was dieser sofort befolgte. Wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich das Geländer einen Spalt breit und Hannes konnte auf die Veranda treten.
Hannes fühlte sich ganz wohl, nur war ihm alles neu und so fragte er Nathan, wo man hier denn sei. Nathan sagte ganz geheimnisvoll: "Wir sind am Rande des Himmels bei der Blitzwerft." Von unten wehte Hannes ein lauer Wind entgegen und vom Geländer aus konnte er viele Wolken sehen und zwischen den Wolkenfetzen auch die Erde. Er schaute sich dieses Wolkenspiel in aller Ruhe an und fand, dass das Wolkenreich hier oben offenbar mit dem Himmelreich übergangslos verschmolzen sei. Nathan zog nun den Blitz, der jetzt ziemlich blass und schwach aussah, langsam in Richtung der nahen Blitzwerft, öffnete das Portal und zog ihn an ein Dock, wo er ihn sorgfältig vertäute. Zu Hannes meinte Nathan nur: "Im Augenblick kannst du mit dem Blitz nicht sprechen, er hat jetzt zu wenig Ladung. Demnächst kommt eine Mannschaft und lädt den Blitz wieder auf. Dann wird er noch frisch poliert und auf gehts zum nächsten Einschlag in Seebach. Er wird dir dann Anweisungen geben."
Hannes schaute nun zu, wie ebenfalls weiss gekleidete Gestalten zwei dicke Kabel am Blitz montierten und dann den Strom einschalteten. Mit viel Spannung und Ladestrom wurde er nun während ein paar Minuten geladen, sodass der Blitz wieder die volle Leistung zur Verfügung hatte. Während der Ladezeit polierten die weissen Gestalten mit grossen Tüchern den Blitz, bis er wieder golden glänzte. Vereinzelte dunkle Brandstellen galt es auch noch weg zu putzten. Der Blitz erholte sich dank der neuen Ladung rasch und wirkte wieder straff. Da er nun wieder ansprechbar war, ging Hannes ganz nah an ihn heran und weil er nicht wusste, wo denn der Kopf des Blitzes sei, fragte er ihn einfach von der Seite her, was denn nun folge. Dieser meinte ganz einfach: "In wenigen Minuten werde ich wieder aus dem Dock gezogen. Dann steigst du auf und hältst dich fest an den Griffen. Ich muss nochmals beim gedeckten Brüggli einschlagen, wo deine Familie auf dich wartet. Sobald ich einschlage, steigst du schnell ab und begibst dich sofort zu deinen Leuten. Alles klar?". Hannes bejahte und machte sich bereit. Schon öffnete sich das Blitzwerftportal und Nathan kam mit einem weiteren Blitz namens Ommo herein, welcher ebenfalls einen ziemlich entladenen Eindruck machte. Er vertäute ihn am nächsten Dock und holte nun Ummu ab, um ihn zum Neustart bereit zu machen.
Nun hatte Hannes noch eine Bitte an Nathan: "Kannst du dafür sorgen, dass meiner Familie beim Einschlag nichts passiert?" "Natürlich kann ich das", meinte Nathan, "ich kenne jeden Blitz mit dem Vornamen und ich sage allen Bescheid. Keine Angst!" So begab sich Hannes wieder zum Blitz. Wie von Geisterhand bewegt, öffnete sich das Geländer einen Spalt breit und er stieg wieder auf den Blitz. Nur Sekunden später raste dieser in die Tiefe. Unter einem gewaltigen Donnerschlag schlug Ummu erneut beim gedeckten Brüggli ein und Hannes sprang sofort ab und rannte in die Brücke, wo er seine Eltern und die Schwester Elsi unversehrt wieder fand.
Voll Begeisterung begann er von seinem Erlebnis zu erzählen, doch alle lachten ihn nur aus. Er sei ja gar nie weg gewesen, meinten sie. Hannes konnte es nicht glauben, dass er das alles nur geträumt haben soll. Doch die Erklärung ist ganz einfach: Da der Blitz mit ca. 500 km/s flog, benötigte er nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er oben in der Blitzwerft war. Und weil die Blitzwerft bereits zum Himmel zählte, gab es dort keine Zeit, sondern nur die Ewigkeit, also verging während seines Aufenthalts keine Zeit. Beim Rückflug galt das Gleiche: Die Flugdauer betrug nur den Bruchteil einer Sekunde. Hannes kam somit praktisch zur gleichen Zeit zurück, wie er mit dem Blitz weg flog. Für seine Eltern und die Schwester war seine Abwesenheit tatsächlich gar nicht wahrnehmbar, sondern nur kindliche Fantasie!