Kindermärchen aus den 1950er Jahren, von Arnold Wirz etwas aufgearbeitet.
Vorspann
Michael Wolgensinger war ein bekannter Fotograf in Zürich. Er wohnte am Zeltweg in Zürich, war aber in fotografischer Mission recht oft in Seebach. Michael Wolgensinger war sowohl als Sachfotograf wie als Reporter bekannt und betrieb beide Gebiete mit derselben Leidenschaft. Seiner schönen Fotos wegen war er in Seebach ein bekannter Mann und man erwähnte ihn immer wieder, sodass auch die Kinder den Namen sehr oft hörten. Die waren aber noch voller Fantasie und verstanden den Namen als «Wolkensinger», denn nur das ergab für sie einen Sinn. Ein Wolkensinger muss auf einer Wolke durch die Lüfte fliegen und dabei Lieder singen und so etwas ist ja nur in einem Märchen möglich. So ist die Märchenfigur des «Wolkensingers» etwa um 1950 entstanden. Das nachfolgende Märchen ist aus Bruchstücken verschiedener Wolkensinger-Geschichten entstanden.
Der Wolkensinger
Es war einmal ein gross gewachsener Mann, welcher in seinem Leben viele Schwierigkeiten hatte und der dennoch seine gute Laune nie verlor. Ging es ihm wieder einmal schlecht, so hatte er eine einfache Art, sich bei Laune zu halten: Er sang. Viel konnte er nicht, doch wenn er eines konnte, dann singen. Er hatte eine Stimme wie Iwan Rebroff, aber mit etwas mehr Volumen, womit er in Singsälen die Wände zum Schwingen bringen konnte. Sein Stimmumfang betrug fünf Oktaven, sodass er ohne Probleme «Im tiefen Keller sitz' ich hier» singen und gleich anschliessend in einem Jungmädchenchor ganz unauffällig und doch vernehmlich mit heller Glockenstimme mitsingen konnte. Er beherrschte seine Kunst bis ins hohe Alter.
Als er mit fast 80 Jahren starb und in den Himmel kam, da hatte Petrus ein Problem mit der Einteilung. Im Buch der erwarteten Zugänge stand unter «Zuteilung» schlicht «noch offen». Die Zuteilung der in den Himmel kommenden Seelen besorgt üblicherweise stets der liebe Gott. Da redete ihm niemand drein und es hätte sich auch nie jemand getraut, schon gar nicht Petrus, der war ja die Treue in Person. Dieser sann nun nach, wann so etwas das letzte Mal geschah und wie er damals die Sache löste. Doch so lange er auch nachsann, er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass der liebe Gott jemals eine Seele nicht zuteilen konnte. Es war also nichts zu machen. Er konnte diese Seele keiner Abteilung zuweisen. So bat er die eingetretene Seele, doch für einen kurzen Moment in die Cafeteria zu gehen, wo er ihr einen Milchkaffee und einen Schoggihalbmond servierte und sie bat, an einem Tischchen so lange Platz zu nehmen, bis er die genaue Zuteilung wisse.
Obwohl Petrus wusste, dass der liebe Gott über die Mittagszeit nicht gestört werden wollte, weil dieser um diese Zeit die täglich rund 50 Millionen eingehenden Gebetswünsche am Abarbeiten war, war er bereits im Begriffe, ihn ausnahmsweise dennoch zu stören. Doch kaum zurück an der Rezeption, kam bereits die nächste Seele an und dann die übernächste und die überübernächste und so fort, bis Petrus die wartende Seele in der Cafeteria vor lauter Arbeit vergessen hatte.
Da die Zeit im Himmel auch Ewigkeit genannt wird und demzufolge ziemlich langsam abläuft, dauerte es ein ganzes Weilchen, bis sich die Seele des alten Mannes über den Langmut von Petrus langsam zu wundern begann. Den Kaffee hatte die wartende Seele längst getrunken und den Schoggihalbmond verspiesen, doch tauchte Petrus einfach nicht auf, so sehr sie auch wartete. Da sie in seiner zurückhaltenden Art nicht im Geringsten daran dachte, sich an der Rezeption über die lange Wartezeit zu beklagen, beschloss sie, sich einmal ganz alleine im Himmel ein wenig umzusehen.
So begab sie sich in den grossen langen Korridor, welchen sie schon von der Cafeteria aus sah und fand dort einige Hinweisschilder. Sie folgte daraufhin dem Schild «Zu den Wolken» und kam nach kurzem Weg an eine grosse Türe, die auf eine Terasse hinaus führte. Sie war unverschlossen und so begab sie sich hinaus und lehnte sich an das hohe Geländer. Es wehte ihr ein lauer Wind entgegen und vom Geländer aus konnte sie viele Wolken sehen und zwischen den Wolkenfetzen auch die Erde. Sie schaute sich dieses Wolkenspiel in aller Ruhe an, bis sich eine Wolke ganz nahe an das Geländer heran wagte und mit warmer Stimme fragte: "Möchtest du mich fliegen?". Die vergessene Seele, die sich ihrer Seelenhaftigkeit noch gar nicht so richtig bewusst war, antwortete gehorsamst mit ja.
Wie von unsichtbarer Hand bewegt, öffnete sich das Geländer einen Spalt breit, sodass sich die Seele in die weisse Wolke begeben konnte, welche die Nummer 12 trug und die ihr jetzt eher wie ein Gummiboot aus Watte vorkam. Sie setzte sich ins weiche Innere der Wolke und diese sagte zu ihr: "Du kannst mich mit den Gedanken steuern!" So schwebte sie auf der Wolke 12 ganz sanft weg von der Terasse und erkundete das Wolkenreich, welches hier oben offenbar mit dem Himmelreich übergangslos verschmolzen war. Schon nach kurzer Zeit hatte sie die Steuerung der Wolke im Griff und beschloss, etwas tiefer zu fliegen. Es interessierte sie vor allem, einmal die Erde von oben zu sehen und so dauerte es nicht lange, bis sie die ersten Dörfer erkennen konnte. Weil sie sich so freute, begann sie zu singen und stellte erstaunt fest, dass ihr Organ auch als Seele immer noch gleich gut klang. So flog sie dann mit geringer Geschwindigkeit über das Dorf, wo sie ihr Leben verbrachte und flog in wenigen Metern Höhe und laut singend über ihr ehemaliges Schulhaus. Alle Kinder schauten nun zur Wolke 12 hinauf und hörten den Klang der Stimme. Und weil sie auch die Umrisse der Seele als alten Mann wahrnehmen konnten, nannten sie ihn den «Wolkensinger».
Da Petrus die Seele des alten Mannes wegen der gleichzeitigen Ankunft mehrerer anderer Seelen völlig vergessen hatte, blieb diese Seele weiterhin frei und nicht zugeteilt. Was die Seele des alten Mannes aber nicht wusste war, dass diese bei ihren Flügen über ihr Heimatdorf auch von ein paar Schutzengeln gesichtet wurde, welche vom Einsatz der Wolke 12 nichts wussten und sich besorgt bei Petrus erkundeten, welches der Zweck der Sache sei. Da dieser vom Einsatz der Wolke 12 auch nichts wusste, beauftrage er den Erzengel Gabriel, dass er zum Rechten sehen möge und dass er ihm bis zum Mittagessen rapportiere, was das alles soll.
Pünktlich um 12 Uhr begab sich Petrus in die Cafeteria und wählte am Tresen ein Wiener Schnitzel mit Erdapfelsalat sowie ein 2-dl-Fläschchen gekühlten Zirfandler und setzte sich an seinen üblichen Platz. Nur wenig später meldete sich Gabriel und berichtete von der vergessenen Seele des alten Mannes und von seinen Flügen in Wolke 12. Jetzt fiel es Petrus wie Schuppen von den Augen. Ziemlich betreten musste er gegenüber Gabriel eingestehen, dass er die gute Seele tatsächlich völlig vergessen habe. Und schon fast ein wenig hilflos fragte er diesen: "Wo würdest du diese Seele denn einteilen?" Da meinte Gabriel ganz gelassen: "Er ist doch schon eingeteilt!" Überrascht fragte Petrus: "Ja wo denn?". Da meinte Gabriel: "Als Wolkensinger!" Verblüfft und erleichtert zugleich, stimmte Petrus dieser Sichtweise zu und ergänzte nach seiner Rückkehr in die Rezeption im Buch der Neuzugänge unter der Rubrik «Zuteilung» ==> Wolkensinger!
So kam es, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts die Seebacher Kinder immer wieder erzählen, sie hätten den Wolkensinger gehört und auch gesehen.
Quellen: - Sage, Märchen oder Geschichte aus den 1950er Jahren, herum geboten unter den kleineren Buben und Mädchen.