Kindermärchen aus den 1950er Jahren, von Arnold Wirz etwas aufgearbeitet.
Vorspann
Es war einmal ein bekannter Fotograf namens Michael Wolgensinger. Er wohnte zwar am Zeltweg in Zürich, war aber in fotografischer Mission recht oft in Seebach. Michael Wolgensinger war sowohl als Sachfotograf wie als Reporter bekannt und betrieb beide Gebiete mit derselben Leidenschaft. Seiner schönen Fotos wegen war er in Seebach ein bekannter Mann und man erwähnte ihn immer wieder, sodass auch die Kinder den Namen sehr oft hörten. Die waren aber noch voller Fantasie und verstanden den Namen als «Wolgasinger», denn nur das ergab für sie einen Sinn. Ein Wolgasinger muss auf einem Ruderboot die Wolga hinunter schippern und dabei Lieder singen und so etwas ist ja nur in einem Märchen möglich, denn in Wirklichkeit wäre die Wolga viel zu breit gewesen für einen Sänger auf dem Schiff. Niemand hätte ihn gehört. Im Märchen aber spielte das keine Rolle und so ist die Märchenfigur «Wolgasinger» etwa um 1950 entstanden. Das nachfolgende Märchen ist aus Bruchstücken verschiedener Wolgasinger-Geschichten entstanden.
Der Wolgasinger
In einem kleinen Städtchen an einem See, nur etwa fünfzig Kilometer von der Wolgaquelle entfernt, wohnte in einem winzigen Holzhäuschen ein kleiner Bub zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern. Er war verantwortlich für das Brennholz zum Beheizen des Ofens und des Kochherdes. Jedes Kind hatte seine Pflichten. Die Mädchen mussten nähen, stricken, wiefeln, nähen und so weiter. Sein Bruder suchte Beeren, Pilze, Teeblätter und Küchenkräuter. Der Vater ging im Walde der Jagd nach und fing im nahen See Fische und die Mutter besorgte den Garten und stand viele Stunden hinter dem Herd.
So wuchs der kleine Bub zu einem grossen Buben heran, doch er wusste nicht so recht, was er werden wollte. In der Schule war er gut im Singen und wenn er einmal mit dem Vater zum Fischen ging, dann gefiel es ihm besonders, wenn er das Ruderboot führen durfte. So war es nicht verwunderlich, dass er nach der Schule bei einem Schiffsbesitzer im nahen Städtchen eine Anstellung als Lastkahnführer fand. Das war zu einer Zeit, als die Lastkähne noch mit Rudern und nicht mit Motoren ausgestattet waren und sein Arbeitgeber gehörte zu jener Sorte Patron, welche pro Kahn nur einen Mann abkommandierten. So war er Kapitän und Galeerenknecht in einem, ruderte sich Schwielen in die Hände, besorgte den bescheidenen Güterverkehr am Ostufer des Sees und versorgte dort die einzelnen Höfe. Da er fast immer alleine unterwegs war, hatte er keine Scheu, die Zeit während der Ruderarbeit mit Singen zu verbringen.
Eines Tages zog es ihn in die Ferne. Mit dem ersparten Geld kaufte er sich ein kleines Ruderboot, packte sein Bündeli und verabschiedete sich von zu Hause. Er versprach aber, eines Tages zurück zu kommen. So fuhr er los von seinem Städtchen auf der noch wilden Wolga und erreichte nach zwei Wochen eine grössere Stadt. Während dieser wilden Fahrt hatte er kaum Zeit, sich dem Singen zu widmen, denn er war mehr als genügend damit beschäftigt, das Ruderboot auf Kurs zu halten, damit es nicht in einen Wirbel geriet oder an einem Felsen im Fluss zerschellte. Am Hafen ergänzte er seine Vorräte und fuhr dann weiter auf der Wolga zur nächsten Stadt.
Erst jetzt wurde die Wolga ruhiger, aber auch immer breiter. Seine nächsten Halte erfolgten in etwas kleineren Städten. Nun floss die Wolga schon ganz träge dahin und er begann wieder zu singen wie zu Hause an seinem See. Als er nach etwas mehr als zwei Monaten eine grosse Stadt erreichte und am Wolgaufer (lies Wolga-Ufer!) einen Gemüsemarkt sah, dockte er, ohne es selber zu bemerken, singenderweise an der Ufermole an. Die Marktfrauen schauten zu ihm hinunter und staunten über den schönen Gesang. Als er sich im Markt umsah, war er bereits überall als Wolgasinger bekannt und musste sich den Leuten nun auch noch als Marktsinger beweisen.
Weil es sich in der Stadt rasch herum sprach, dass er eine schöne, kräftige Stimme hatte, wurde er mit Angeboten überhäuft und war bald ein gefragter Sänger in der Stadt. Und weil er es so gewohnt war, sang er weiter seine Lieder, welche er zu Hause an seinem See und auf der Wolga einstudiert hatte und so wurde er immer mehr als Wolgasinger ein Begriff. Als ziemlich reicher und berühmter Mann kehrte er Jahre später in sein Heimatstädtchen zurück. Die Eltern freuten sich, ihren Sohn wieder zu sehen und dieser belohnte sie, indem er einen Teil seines reichlich verdienten Geldes in den Ausbau des elterlichen Hauses und in ein neues Boot für den Vater investierte. Und es freute sich die ganze Familie über den unerwarteten Segen.
Da er immer nur als Wolgasinger bezeichnet wurde, ist bis heute unbekannt geblieben, wie er in Wirklichkeit hiess. Einer seiner Nachfahren wanderte später in die Schweiz aus, wo sich dann sein Name immer mehr verbreitete. Hier endet das Märchen und lässt völlig offen, wie denn der erste Wolgasinger mit dem Fotografen Michael Wolgensinger verwandt war.
Quellen: - Sage, Märchen oder Geschichte aus den 1950er Jahren, herum geboten unter den kleineren Buben und Mädchen.