Der Holunderbaum ist kein typisches Seebach Gewächs. Um aber die Geschichte Seebachs ein wenig abzurunden, sollte er nicht fehlen. Noch in den 1950er Jahren hatte er nämlich eine nicht zu verachtende Bedeutung und zwar in verschiedener Hinsicht. In Seebach nannte man ihn Holderebaum und die Beeren Holdere.
Für die Kinder war er ein sehr interessanter Baum, denn im Juni entwickelte er eine reichliche Anzahl von weissen Blütenständen. Zugleich wuchsen jedes Frühjahr zahlreiche Geiltriebe neben dem Hauptstamm auf. Dies geschah so schnell, dass man diesen Trieben förmlich zuschauen konnte, wie sie in die Höhe 'schossen'. Das führte dazu, dass der Baum nicht ein echter Baum mit hohem Stamm wurde, sondern eher ein Mittelding zwischen Busch und Baum.
Neben dem kleinen Metzgereigebäude bei der Hertensteinbrücke über den Katzenbach stand bachseitig ein solcher Holunderbaum, an den ich mich noch gut erinnern kann. Seine Ã?ste luden so weit aus, dass er den Bach überragte und bis in das Gartenrestaurant Falken ragte. Dort vereinigte sich das Geäst mit einem Holunderbaum auf der Seite des Restaurants Falken. Sie bildeten zusammen eine Art Baldachin über dem Katzenbach. Ein weiterer Holunderbaum wuchs in unserem Garten im Schönauring 52 neben der Terrasse. Meine Eltern erlaubten mir nämlich im Frühjahr 1953, im Schwandenholz ein junges Bäumchen, kaum 30 cm hoch, mit nach Hause zu nehmen und zu Hause in der Ecke zum Ausgang von der Terrasse zur Spielwiese zu pflanzen. So konnte ich Jahr für Jahr verfolgen, wie das Bäumchen wuchs und wie es von den eigenen Geiltrieben bald einmal überragt wurde. Mein Grossvater schnitt dann die Geiltriebe aus, weil er meinte, dass sie dem Bäumchen den Saft nähmen. Die grösser werdenden Wurzeln sorgten bereits 1955 dafür, dass sich die Terrassenplatten etwas wölbten. Der Baum wurde von den Ohrwürmern (Ooremüggler) ganz besonders gerne besucht.
Sobald die Reifezeit der Holunderbeeren anbrach, nahm der Grossvater, der 1953 bei uns wohnte, immer einen kleinen Weidekorb mit auf unsere Wanderungen ins Schwandenholz. Besonders den Waldrändern entlang wuchsen dort zahlreiche Holunderbäume und er schnitt dann die fast schwarzen Fruchtdolden mit einer Scheere ab und legte sie in den Weidekorb. Zuhause wurden die Beeren dann sorgfältig von den Dolden entfernt und gewaschen. Da durften wir Kinder mithelfen und bekamen von der Arbeit ganz dunkelrote Finger. Die Verfärbung hielt sich oft mehrere Tage. Danach kochte der Grossvater die Beeren auf und zerstampfte sie mit einem speziellen Holzgerät. Nach einer gewissen Zeit trieb er den ganzen Pfanneninhalt durch ein Stück Gaze und presste den Saft von blosser Hand aus dem Gazebeutel in eine andere Pfanne, fügte etwas Gelierzucker bei und liess ihn längere Zeit kochen, bis er etwas eingedickt war. Dann leerte er einen Teil des Saftes in eine Getränkeflasche und verdünnte diesen mit Leitungswasser und fertig war der Holundersirup. Das spielte der Grossvater während dem Sommer mehrmals durch, sodass er reichlich Vorrat hatte.
Der so gewonnene Sirup ersetzte dann eine Zeit lang den teureren Süssmost. Den restlichen Saft kochte er zu Latwerge ein und füllte sie in ein Konfitürenglas. Davon bekamen wir dann den Winter hindurch, wenn ein Schnupfen oder eine Erkältung im Anzug war. Wir wurden angewiesen, bereits beim geringsten Schluckweh uns zu melden, damit er uns Kindern rechtzeitig von der Latwerge einen Teelöffel voll verabreichen konnte. Er vertrat die Auffassung, je früher man die Holunderlatwerge zu sich nähme, desto weniger bräuchte es davon, um die Erkältung wieder los zu werden.
Meine Mutter schmierte die Latwerge auch aufs Butterbrot, doch mein Grossvater meinte, das wäre fast zu schade darum. Am meisten in Erinnerung geblieben sind bei diesem Holunderkochen die Flecken an den Kleidern und die lange dauernde Putzarbeit in der Küche, bis alle Spuren wieder beseitigt waren. Bis heute nachgewirkt haben aber auch die volksmedizinischen Kenntnisse meines Grossvaters. Noch heute benütze ich die Holunderlatwerge mit grossem Erfolg. Fast scheint es, dass die Wirkung im Laufe einer Jahrzehnte langen Anwendung immer besser wird, denn ich brauche nur noch alle paar Jahre ein neues Glas Holunderlatwerge, so selten kommt die Erkältung heute zu Besuch. Holunder hilft auch gegen ein paar andere Beschwerden und zwar unabhängig davon, ob man daran glaubt oder nicht.
Holunderlatwerge erhält man bei Coop und bei Spar von Eisenhut in Gossau SG, in gut assortierten Apotheken von Lacobi in Bischoffszell TG sowie bei der Migros von einem nicht deklarierten Schweizer Hersteller.