Unter dem Milchmann verstand man noch bis in die 1970er Jahre hinein, den Ausläufer eines Milchladens oder einer Sennerei. Früher war das in jedem Dorfe und selbst im grossen Zürich völlig üblich. Dabei ist Ausläufer sicher eine Untertreibung, denn die Arbeit eines Milchmannes war hart, streng und dauerte lang! Und sie erforderte Freude an der harten Arbeit, Zuverlässigkeit, eine kräftige Statur und eine noch bessere Gesundheit. Im Falle Seebachs kenne ich das Einzugsgebiet der Sennerei Seebach, welche den Schönauring, die Buchwiesen und die Birchstrasse umfasste. Die Sennerei wurde während meiner Seebacher Jugendzeit (1949-1963) von Ferdinand Buchmann geleitet und sein Milchmann war Sepp Studer.
Seine Arbeit begann morgens um 4.30 Uhr und endete um 13.30 Uhr und zwar 6 Tage pro Woche. Der Milchmann benützte für seine Arbeit einen zweirädrigen Handwagen, welcher mit Gummireifen ausgestattet war und einen guten Lauf besass. Derjenige der Sennerei Seebach war blau gestrichen und trug die Aufschrift «Ferd. Buchmann». Auf dem Wagen standen im unteren Teil drei 40-Liter-Milchkannen zum Nachfüllen und eine 20-Liter-Kanne zum Ausschenken. In diesem Kessel hingen an einem Halter ein 1-Liter- und ein ½-Liter-Messgefäss. Damit füllte er die Milchkessel der Kunden einzeln von Hand. Ebenfalls unten war die grosse hölzerne Umhängekiste mit der Butter, dem Rahm, dem Käse und den Joghurts. Im oberen Fach seines Milchwagens befanden sich die weiteren Vorräte für die Umhängekiste.
Alles in allem begann Sepp Studer seine Arbeit mit einem Wagen von 250 kg Gewicht! Bei den Kunden standen die Milchkessel im Milchkasten, direkt hinter dem Briefkasten. Sie waren meistens im Treppenhaus bei Wohnblocks oder bei Reihenhäuser neben der Haustür im Mauerwerk eingelassen. Daneben lagen die Milchbüechli, wo der Kunde seine Bestellung eintrug. Der Milchmann trug die Preise ein. Einmal monatlich wurde abgerechnet. Über die Preise wurde nicht gefeilscht, aber oft über das Zahldatum, denn Geld war damals Mangelware und nicht jeder Kunde konnte pünktlich zahlen. Auch in der Molkerei gab es eine schwarze Tafel, wo mit Kreide stand, wer anschreiben liess, also im wortwörtlichen Sinne in der Kreide stand. Das war damals so üblich und es störte niemanden, wenn jedermann, der wollte, nachlesen konnte, wer der Molkerei noch etwas schuldete.
Neben Milch hatte der Milchmann stets vorabgepackten Emmentaler und Tilsiter in 200g-Packungen, Rahm in 2 dl- und 5 dl-Flaschen, Butter in 100 g- und 200 g-Mödeli und Joghurts in Gläsern dabei. Die Auswahl bei den Joghurts beschränkte sich auf Nature, Mokka und Erdbeer. Wer etwas anderes brauchte, musste das in der Molki selber holen. Diese war 2-3 x täglich stundenweise geöffnet und stets gut besucht.
Der Milchmann besorgte auch einen Teil des Inkassos, hatte also stets einen Riesenbeutel Geld dabei. Es war damals offenbar noch Ehrensache unter Ganoven, dass man Milchmänner und Pöstler nicht überfällt. Bei den Milchmännern könnte es allerdings auch sein, dass sich die Ganoven vor ihnen fürchteten, denn Milchmänner waren so stark, dass sie einen Taugenichts ohne grosse Anstrengung ein paar Meter durch die Luft hätten werfen können. Der Milchmann konnte auf garstiges Wetter keine Rücksicht nehmen. Er kam bei jedem Wetter. Im Sommer und im Winter. In den kalten Wintern war das damals nicht so einfach, vor allem, wenn es sehr kalt war und einem fast die Finger einfroren. Sepp Studer war ein zäher Bursche und klagte nie über den «Chuenagel».
Um das einigermassen zu vermeiden, trug der Milchmann gestrickte Spezialhandschuhe mit offenen Fingerspitzen. Wenn es zusätzlich noch schneite, dann kam Sepp Studer manchmal auch eine Stunde später als üblich, denn dann war das Vorankommen erschwert. Gelegentlich ging ihm auch mal ein Produkt viel zu früh aus. Dann erlaubte er sich bei den Kunden, die bereits ein Telefon hatten, in die Molkerei zu telefonieren und Ferdinand Buchmann lieferte Nachschub mit seinem PW. Solche Gespräche hat er immer sofort bar bezahlt. Das kam aber eher selten vor. Sepp kannte seine Kundschaft so gut, dass er je nach Wetter und Saison ziemlich genau wusste, was seine Kundschaft brauchte. Dazu benützte Sepp einen einfachen Trick: Er merkte sich die Bestellungen in den Milchbüechli, welche schon für mehrere Tage im voraus ausgefüllt waren!
Sepp Studer war für die Kinder ein interessanter Mann. Die einen begleiteten ihn in respektvoller Distanz, andere näherten sich ihm und stellten Fragen, welche er meist sehr geduldig beantwortete. Es gab aber auch Lausbuben und -mädchen, welche ihn hin und wieder zu hänseln versuchten. Bei seiner Gutmütigkeit brauchte das allerdings ziemlich viel Geduld, bis er unwirsch reagierte. Meine Schwester Rosmarie gehörte um etwa 1955 zusammen mit einer Schulfreundin einmal zu dieser Gruppe. Auf welche Weise die beiden ihn ärgerten ist nicht mehr bekannt, sehr wohl aber noch, wie er reagierte. Als es ihm zu bunt wurde, griff er in die Butterkiste und warf meiner flüchtenden Schwester ein grosses Mödeli Butter nach, welches an ihrem Rücken abprallte und dann auf den Boden fiel. Rosmarie hob das arg zerbeulte Mödeli auf und brachte es der Mutter nach Hause. Diese hat es dann gesäubert und wieder 'zurechtgebogen', sodass Sepp Studers Wurfbutter die Aufgabe übernehmen konnte, unsere Haushaltskasse ein ganz klein wenig zu entlasten.
Nach der Rückkehr in die Molki hiess es abrechnen, rückfassen in die Kühlräume und dann ab zum meist sehr späten Mittagessen. Sepp Studer hatte auch eine kleine, über 200 kg schwere Leidenschaft: Er hatte eine schwarze Freundin. Sie hiess BWM R-500. Und sie war sein ganzer Stolz. Damals galt man was mit so einem Töff! Manchmal sah man ihn auf einer kurzen Ausfahrt. Am Abend hiess es früh zu Bette gehen. Keine Frage warum. Sepp Studer fehlte nur sehr selten und machte auch wenig Ferien. Dann sprang häufig Ferdinand Buchmann ein, der aber ein bisschen langsamer voran kam, da ihm die nötige Übung fehlte. Sepp Studer erreichte sein Pensionsalter nicht. In den mittleren 1960er Jahren ereilte ihn eine sehr starke Erkältung, entweder eine Grippe oder eine Lungenentzündung, die er sich wahrscheinlich einhandelte, weil er sich wegen eines «Pfnüsels» nie ins Bett legte. Er verstarb für alle völlig überraschend etwa im Jahre 1965.
Der Beruf des Milchmanns wurde im Jahre 1963 insofern etwas erleichtert, als der Zustelldienst an Sonn- und Feiertagen eingestellt wurde. Milchmänner oder sogar Milchfrauen gab es in Seebach auch in den anderen Quartierteilen, denn ein Milchmann konnte je nach Gebiet höchstens 400 bis 500 Wohnungen mit etwa 2000 Einwohnern bedienen, was bei der Einwohnerzahl Seebachs um 1955 Arbeit für gut 7 Milchmänner bedeutete. Unter der Bezeichnung Kundenkreiseinteilung haben sich die Seebacher Milchläden bereits 1951 auf die entsprechenden Reviere geeinigt.
Milchmänner anderer Reviere waren Ruedi Meier und Joggi Gossweiler (1878-1948), welche das Gebiet Hinterdorf abdeckten. Diese beiden besorgten ihre Arbeit mit einem Ross und hatten dementsprechend einen etwas anders gestalteten Wagen als Sepp Studer. Von Joggi Gossweilers Pferd gibt es noch eine Aufnahme aus dem Jahre 1957. Siehe unter Pfadschlitten!
Nochmals eine andere Lösung hatte das Milch-, Käse- und Buttergeschäft Lanz an der Leimgrübelstrasse (um 1960). Dort führte eine 'Milchfrau' (!), die einzige bekannt gewordene in Seebach, ein Rapid-Wägeli und bediente das Gebiet Leimgrübel, Buchholzrain, obere Glatttalstrasse und obere Rümlangstrasse. Einen weiteren Milchmann hatte Chäspeter im Gebiet Eggbühl im Einsatz und das Milch-, Käse- und Butterlädeli von Josef Koller am unteren Ende der Glatttalstrasse setzte um 1955 ebenfalls einen Milchmann ein, welcher Toni zum Vornamen hiess. Überliefert ist für 1931 auch der Milchmann Ernst Wenger von der Milch-, Butter- und Käsehandlung Kuhn neben dem Restaurant Waag. Auch an der Friesstrasse gab es ein solches Lädeli. Es war die Milchhandlung von V. Gallina an der Friesstrasse 47, im Seebacherhof. Sie ist nachgewiesen für die Zeit von 1940 bis etwa 1954. Gallina führte ein vollwertiges Milch-, Käse und Buttergeschäft und beschäftigte ebenfalls einen Milchmann, welcher seine Tour im Gebiet Friesstrasse besorgte.
Quellen: - OGS-eigene - Luise Eisenring-Kuhn (Hinweis auf ihren Milchmann) - Marcel Fisler (Milchgeschäft Gallina)