In den frühen 1950er Jahren gab es an der Einmündung der alten Katzenbachstrasse in die Köschenrütistrasse, also im Gebiet Lengg, einen Kirschbaum, welcher jeden Frühsommer mit verlockend dunkelroten Kirschen behangen war. Der schlaue Bauer, dem der Kirschbaum gehörte, versah diesen stets mit weissen Gazetüchern, damit die Vögel sich nicht an den Früchten vergreifen konnten. Grössere Buben, welche dort regelmässig vorbei kamen, erinnerten sich dann immer, dass erstens diese Kirschen ganz besonders süss und fleischig waren und zweitens, dass es wieder an der Zeit war, sich um die feinen Früchte zu kümmern.
Alleine war es allerdings nicht möglich, auf den Baum zu klettern, da der Stamm dazu ein wenig zu hoch war. Sich mit einer Leiter dem Baum zu nähern, kam auch nicht in Frage, denn der Bauer, welchem der Kirschbaum gehörte, hätte ein so auffälliges Verhalten sicher bemerkt. Also lösten die Buben das Problem so, dass sie sich zu dritt in braunen Kleidern von der Strasse her dem Baume näherten, in gebückter Haltung durch das hohe Gras stapften und sich dann ganz eng an dem Baumstamm schmiegten, damit ihre Anwesenheit nicht auffiel. Dann zogen sie ihre Schuhe aus. Der erste übernahm die Aufgabe des Wächters, während der zweite seine Hände zu einer Art Tritt faltete, alldieweil der dritte über dessen Händetritt und Achseln stieg, den Baumstamm erklomm und dann auf einen der untersten Äste kletterte. Danach schlüpfte er durch die Gazetücher und begann mit der Ernte und dem gleichzeitigen Verzehr der feinen Kirschen, bis ihm der Bauch wackelte. Danach stieg er auf die gleiche Art wieder hinunter und so wechselten sie sich solange ab, bis alle drei satt waren. Danach schlich man mit unschuldigen Engelsgesichtern und härzigen blonden Haaren davon und tat so, als wäre nichts geschehen.
Einmal allerdings hatten sie die Rechnung ohne den Bauern gemacht. Bauern gelten nicht nur im Volksmund als schlau, sie sind es auch. Und dieser Bauer hatte offenbar Wind bekommen, weil er die Spuren im Gras richtig deutete. Jugendliche Kirschendiebe wiederum zeichnen sich durch eine Schwäche aus, die ihnen immer wieder zum Verhängnis wird: Sie können nie genug davon bekommen! Und weil ideal gelegene Kirschbäume in Seebach Mangelware waren, machten sie sich eben meist am gleichen Baum zu schaffen. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Und so kam es, dass der Bauer sich auf die Lauer legte, als er wieder ein paar Buben sah, wie sie sich seinem Kirschbaum näherten. Klugerweise wartete er, bis alle ihre Schuhe ausgezogen hatten. Dann sprang er auf, rannte zum Baumstamm, schnappte sich die drei Paar Schuhe und begab sich friedlich auf den Heimweg. Zu den Buben hin gewandt meinte er nur: "Ihr könnt eure Schuhe heute Abend bei mir zu Hause abholen."
Schuhe waren 1953 eine teure Angelegenheit. Seine Schuhe zu verlieren galt bei den Eltern als ein sehr schweres Vergehen. Das konnten sich die Buben nicht leisten und so kam es, dass der kluge Bauer am Abend den Besuch der drei Buben bekam, welche nicht nur ihre teuren Schuhe abholen wollten, sondern sich auch noch reumütig entschuldigten und dem Bauern für den Kirschenklau ihr Erspartes ablieferten. Das sprach sich dann herum und dafür sorgte der Bauer gleich selbst und zwar so lange, bis es das halbe Dorf wusste. Fortan soll der Kirschbaum für längere Zeit keinen Besuch mehr bekommen haben.